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Die Roichtschäggeten. Lötschentaler Maskenbräuche.

Über einen Maskenbrauch.

Von Hans Zulliger, Bern.

Das schweizerische Lötschental hat einer transalpinen Bahn von europäischem Ruf den Namen gegeben, der Lötschbergbahn, die die Verbindung zwischen Deutschland und Italien auf kürzestem Weg ermöglicht. Vor der Erbauung dieses Verkehrsstranges mit seinem vierzehneinhalb Kilometer langen Tunnel blieb Lötschen als hochgelegenes Seitental des Wallis, das man nur auf einem schmalen Bergpfad und im besten Falle mit einem Maultier erreichen konnte, völlig unbekannt. In seiner Abgeschlossenheit und Unberührtheit blieben in ihm allerlei alte Bräuche, die an diejenigen der Primitiven erinnern, in ihrer Ursprünglichkeit erhalten, und es gelang auch der katholischen Kirche nicht, sie dauernd auszurotten. Unter ihnen finden die Ethnologen, insbesondere Rütimeier, 1) die Maskenbräuche als von „der wildesten Art“ und als Überreste einer Kulturschicht, an die nur noch die Fastnachtsgebräuche, die Perchtelläufe 2) in den bayrischen und österreichischen Alpenländern, dem Pongau und Pintschgau, in der Schweiz der Silvestermummenschanz im bernischen Mittelland, der Weihnachtsumzüge im aargauischen Wittwil, die Klausläufe im Zürcher und St. Galler Oberland und im Kanton Appenzell und das „Achetringele“ 3) in Laupen und Wieden (Bern) in Andeutungen erinnern.

1) Rütimeier: Urethnographie der Schweiz. Basel 1924.
2) Buschan: Illustrierte Völkerkunde. Bd. „Europa“. Stuttgart.
3) Balmer in „Der Achetringeler“, Nr. 1, Jahrg. 1926. Laupen (Bern).

Tschägättä Masken aus dem Lötschental Wallis, um 1870.

Im Lötschentaler Maskenbrauch der „Roichtschäggeten“ (d. h. „Rauchgescheckte“) ist neben anderem völkerpsychologischen Material ein Befruchtungszauber inbegriffen, der heute schon verschwunden ist, nach Rütimeier jedoch noch vor dreißig bis vierzig Jahren zu Recht bestand, und dessen besonderes Requisit, eine „Maskenspritze“, im Museum für Völkerkunde in Basel aufbewahrt wird.

Das Maskentreiben der Roichtschäggeten, das ich selber einmal mitanzusehen Gelegenheit hatte, wird am Montag und Dienstag vor Aschermittwoch an den Nachmittagen gefeiert, insbesondere in den Dörfern Kippel und Blatten, und es verläuft folgendermaßen: 4)

„Die ledigen Burschen springen an diesen Tagen noch herum, angetan mit ihren meist vom Eigentümer selbst aus freier Hand ohne viel Vorzeichnung aus einem Arvenklotz geschnitzten Masken, die meist mit einem Gehänge aus Ziegenfell versehen sind, angetan mit schwarzen oder weißen Schaffellen, in der Hand einen Stock, wozu oft ein alter Flößerhaken dient, um den Leib einen Gürtel, an den Kuhglocken (Treicheln) gehängt werden, die beim Herumspringen der Burschen, was unter Gebrüll wie der Teufel oder wie ein „Muni“ (fortpflanzungsfähiger und zu diesem Zwecke benutzter Stier) geschieht, laut schellen.

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Zwei Masken aus dem Lötschental Wallis, um 1870.

Früher schlossen sich Frauen und Kinder beim Herannahen der maskierten Roitscheggeten 5) (so genannt, weil man den Kindern sagte, sie kämen aus rußigen Kaminen, Roich = Rauch Ruß) in die Häuser ein, was jetzt noch besonders in Kippel zu geschehen scheint. Eventuell wurden die in die Häuser dringenden Maskierten dort mit Fleisch und Nidlen (Rahm) verköstigt; gebettelt oder gar geraubt wird nicht, wie dies früher bei den höchst interessanten Bräuchen der „Tüfel“ der alten Wiler Fastnacht 6) der Fall war, wo das Putzenrecht anerkannt war, eigentlich ein Recht auf Plünderung durch die Maskierten in Bäcker- und Metzgerläden.

4) Rütimeier, op. cit. S. 559 ff. Siehe ferner Stehler: Schweizer Archiv für Volkskunde, Bd. I, S. 178 und 257, und Hoffmann-Krayer: „Einige schweizerische Masken und Maskenbräuche“ in „Die Schweiz“, Bd. 1897, S. 506.
5) Rütimeier schreibt „Roitscheggeten“ – in Blatten aber spricht man sehr deutlich „Roich-Tschäggeten“, was die Herkunft der Bezeichnung von „Rauch“ (Ruß und „gescheckt“ gut erkennen läßt.

Ein sehr interessantes, bis jetzt anscheinend unbekanntes, bei diesen Maskenbräuchen zur Verwendung gekommenes Objekt erhielt ich neulich aus dem Lötschental in Form einer Art von Spritze. Das alte Gerät, welches in seiner Primitivität zunächst fast als afrikanisches Ethnographikum imponierte, besteht aus einem konischen, hohlen, siebenundvierzig Zentimeter langen, mit seitlichem Griff versehenen Holzstück, in dessen röhrenförmiger Höhlung ein früher offenbar durch Lederdichtung geführter Spritzenstempel in Form eines zylindrischen Holzstabes auf und ab bewegt werden kann. Die Vorderfläche zeigt sehr typisch, daß das merkwürdige Objekt zu den Maskenbräuchen gehört, eine aus Leder hergestellte Maske, ähnlich den großen, mit Haarschnautz unter der Nase als Dekor. Die Spritze wurde, nach den mir gewordenen Informationen, früher ausschließlich bei den Maskenumzügen gebraucht, um die aus den verschlossenen Häusern hinausschauenden Frauen und Mädchen zu bespritzen. Es kamen dabei verschiedene Flüssigkeiten zur Anwendung, wie aufgeschwemmter Kaminruß, Jauche und, wenn es zu haben war, Blut, welch letzteres wohl auf sehr alte Erinnerungen hinweist. Es scheint sich hier wohl um einen Fruchtbarkeitsritus – durch Anspritzen der Frauen gehandelt zu haben, einen Ritus, dessen weite Verbreitung ja bekannt ist.

Daß die Masken nur getragen werden in Verbindung mit Schaf- und Ziegenfellen, die die ganze Figur des Trägers verhüllen, nicht nur sein Gesicht, weist auch auf ihre ursprüngliche Bedeutung zurück, daß ihr Träger in Beziehung tritt zur Dämonenwelt, also als Geist auftritt, wie dies Speiser 7) auch von den Maskenbräuchen auf den Neuen Hebriden berichtet.

„Was die Masken selbst betrifft, so konnte ich neben den früher schon beschriebenen Typen einige neue sammeln. So zwei mit Ziegenhörnern versehene, eine angeblich zirka hundert Jahre alte von besonders sorgfältiger Arbeit und roter Bemalung . . . Tiermasken, wie im bayrisch-österreichischen Alpenland, kommen im Lötschental nicht vor.“

6) Baumberger: St.-Galler Land, St.-Galler Volk. Einsiedeln 1903.
7) Speiser; Ethnographische Materialien aus den Neuen Hebriden und den Banksinseln. Berlin 1923. Speiser: Südsee, Urwald, Kannibalen. 2. Aufl., Stuttgart 1926. Parkinson: Dreißig Jahre in der Südsee. Stuttgart. Wirz: Dämonen und Wilde in Neuguinea. Stuttgart 1928.

Die lokale Geschichte und Überlieferung erklärt die Maskenbräuche der Roichtschäggeten als Überbleibsel und Erinnerung an eine Räuberbande aus vorgeschichtlicher Zeit, die „Die geschulten Diebe“ hieß. Es handelte sich um eine Bande von Männern, in deren Gesellschaft man erst nach Absolvierung bestimmter Initiationsriten gelangte. Unter anderem mußten die Novizen mit einer schweren Last an einer bestimmten Stelle über die Lonza, den reißenden Talbach, springen können. Die Stelle wird noch jetzt gezeigt. Die Räuber, deren Organisation an die Männerbünde der Primitiven (Leopardenmenschen 8) an der Guineaküste, Duk – Duk- Gesellschaft 9) auf den Karolinen) und an den modernen Ku-Klux-Clan in den Vereinigten Staaten von Nordamerika erinnert, überfielen die Dörfler in schreckhafter Verkleidung mit Masken, Tierfellvermummungen und mit lärmenden Instrumenten, und erst im siebzehnten Jahrhundert sollen sie zu existieren aufgehört haben.

Rütimeier bringt die Roichtschäggeten direkt in Zusammenhang mit den Geheimbünden 10) und Altersklassen, 11) und er hat wohl recht; als Überrest hat man z. B. in Blatten noch das „Gemeindehaus“ (Männerhaus), zu dem, wie man mir berichtete, früher keine Frau Zutritt hatte, wenn die Männer darin versammelt waren. Der zitierte Autor spricht dann auch den Gedanken aus, daß die Lötschentaler Maskenbräuche mit ihrem Drum und Dran „nicht durch Wanderungen und Entlehnungen zu erklären sind, sondern daß sie dem Urgrund allgemein-menschlichen ‚Wesens und menschlicher Psyche entstiegen, daß sie also zu den sogenannten menschlichen Elementargedanken gehören, die an verschiedenen anthropo-geographischen Stellen der Erde in globaler Verbreitung in verschiedener Weise sich ausgeprägt haben … “ Die Lötschtaler Bräuche seien zu den Kollektiväußerungen der Menschheit, und zwar der Menschheit aller Zeitepochen zu zählen.

8) Buschan, op. cit., Bd. „Afrika“. Schweitzer: Mitteilungen ans Lambarene. Bern 1925.
9) Buschan, op. cit., „Abschnitt Polynesien und Mikronesien“. Schurtz: Urgeschichte der Kultur. Leipzig und Wien 1912, S. 116.
10) Schurtz: Urgeschichte der Kultur, Abschnitt „Die Gesellschaft“.
11) Schurtz, op. cit., S. 112. Zeller: Die Knabenweihen. Bern 1923.

Wenn wir uns in dieser Arbeit der Mühe unterziehen, einen an einem bestimmten Orte gebräuchlichen Fruchtbarkeitszauber psychologisch zu erklären, so tun wir es nicht etwa nur in der Absicht, etwas für die Aufhellung der Volkspsychologie dieses Ortes zu leisten. Denn wenn der Brauch Kollektivbesitz der Menschheit ist, dann trifft unsere Untersuchung nicht nur zu für das psychische Verhalten eines kleinbegrenzten Gebietes oder eines Menschenschlages, sondern für die Gesamtheit der Menschen überhaupt. Im Lötschtaler Brauch finden wir einen Zauber samt seinen Begleitumständen, der vom säkularen Bedeutungswandel noch weniger erfahren hat als irgendein anderer Brauch aus anderer Gegend, die der Zivilisation näher liegt. Es erscheint uns also, die Untersuchung sei darum gerechtfertigt, weil sie sich um etwas Allgemein-Menschlich-Psychisches dreht, und das Material andernteils rechtfertige sich daran, weil es mitten unter uns und dennoch recht ursprünglich und unverbildet ist in seiner Art.

Der Brauch, sich zu maskieren, hängt mit der Identifikation der Maskierten mit einem Geiste zusammen. Bei den Primitiven glaubt man, wie Schurtz 12) u. a. berichten, daß sich im Maskierten der Geist eines Ahnen verkörpere und die ursprüngliche Maske war der Schädel eines Verstorbenen. Erst später entwickelte sich daraus die aus Holz oder Faserstoffen hergestellte Maske. Oft spielen, wie auf Neuguinea 13) und anderen Orten Überreste des Totemismus in die Maskengebräuche hinein: es werden dann solche Masken verwendet, die den Totem darstellen oder für ihn charakteristisch sind, so in Holländisch – Neuguinea beispielsweise Krokodilen nachgebildete Masken, bei den Singhalesen 14) solche, die die Krankheitsdämonen darstellen, z. B. Schlangen, bei den Hopi 15) (Nordamerika) Masken, die Insignien des Regengottes tragen usw.

Masken europäischer Herkunft, die totemistische Spuren aufweisen, werden bei den bereits erwähnten Perchtelläufern in den Ostalpen gebraucht. Wenn die Lötschentaler Roichtschäggeten Ziegen- und Schaffelle zur Vermummung benutzen, so dürfte man in diesen Materialien nicht allein Requisiten sehen, die man gleich und leicht zur Hand hat, – die Bauern halten sich zahlreiche Ziegen- und Schafherden, – die Art der Vermummung läßt auf totemistisch-animistische Überreste schließen. Solches deutet Rütimeier an, wenn er sagt, daß der Roichtschäggete „in Beziehung tritt zur Dämonenwelt, also als Geist auftritt“.

Wir können die Verkleidung mit Ziegen- und Schaffellen der Roichtschäggeten in Parallele setzen zu vielen totemistischen Gebräuchen der Wilden. Es sei hier der Fall des Stammes der Bakairi 16) im Nilquellengebiet herausgegriffen; die Bakairi führen, bevor sie auf Kriegszüge oder auf die Jagd ziehen, Maskentänze auf, wobei sie sich in Leopardenfelle kleiden und glauben, der Ritus des Tanzes und die Verkleidung gebe ihnen die Kraft und die Eigenschaften des Leoparden.

12) Schurtz, op. eit. nach Bastian, S. 117, über den Ogbonibund in Westafrika.
13) Wirz, op. eit.
14) Schurtz, op. cit., Tafel S. 116.
15) Schurtz, op. cit., Tafel S. 116.
16) Buschan, op. cit., Bd. „Afrika“.

Was Freud in „Totem und Tabu“, insbesondere in dem Abschnitt über „Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken“ ausgeführt hat, kann und braucht hier nicht wiederholt zu werden. Es sei aus Freuds Abhandlungen nur daran erinnert, daß bei vielen totemistischen Völkern das Totemtier zu gewissen Zeiten rituell von der Gesamtheit des Stammes gejagt, unter Anführung der Priester oder Medizinmänner geschlachtet, dann gemeinsam verspeist wird, was einer Identifikation mit dem Urvater auf kannibalistischer Stufe gleichkommt. Und es sei darauf aufmerksam gemacht, daß das Christentum im heiligen Abendmahl symbolisch das Gleiche tut, wie der Primitive, wenn er bei Anlass einer religiösen Zeremonie seinen Totem aufißt:16) die animistische, d. h. die primitivste Denkstufe ist also auch den Christen nicht ganz fremd.

Die meisten Masken der Roichtschäggeten tragen nun noch ein weiteres totemistisches Zeichen, sie sind gehörnt. Bald sind es Hörner, wie sie junge Rinder tragen und wie man sie etwa an Statuen des Moses Cz. Bspl. Mosesbrunnen in Bern) angebracht sieht, dann finden sich an den Masken die krummen Hörner der Widder und Ziegenböcke und die bedrohlicheren der Stiere. Manchmal hat man statt der Hörner mächtige Eberzähne angebracht, die wiederum wie kleine Hörner aussehen und den Masken ein äußerst wildes Aussehen verleihen. Außer den Kuhschellen zum Lärm machen verwenden die Roichtschäggeten immer auch Hörner von Kühen und Stieren, in die sie blasen, um mit den dumpfen Tönen das Unheimliche ihres Auftretens zu verstärken.

Ihr Auftreten erinnert deutlich an dasjenige der primitiven Maskentänzer bei Todesfällen. 17) Das Lärm machen hat dort den Sinn, daß der abscheidende und zum Dämon gewordene Geist aus den Gemarken der Lebenden vertrieben werden soll, denn sein Bleiben, bzw. seine Rückkehr bedeutet Unglück, Krankheit und Tod.18) Wenn man über das Verhalten der primitiven Maskentänzer liest oder sie an Ort und Stelle studiert, so erhält man den Eindruck, daß die Tänzer noch ältere und mächtigere Ahnengeister bedeuten, die, wie Schurtz 19) aussagt, die Aufgabe haben, die böse gesinnten Geister zu versöhnen oder zu vertreiben, so eben auch den Geist eines eben Verstorbenen.

Über die Bedeutung der Hörner in der Völkerkunde, im Volksglauben und im allgemeinen Sprachgebrauch hat Marie Bonaparte 20) eine ausführliche Arbeit geschrieben. Die Hörner bedeuten im Sinn einer“ Verschiebung nach oben“ den Penis des Urvaters und seine Potenz ist durch die Verdopplung – zwei Hörner – augenfällig dargestellt.

Wenn wir zu den Roichtschäggeten zurückkehren und zugleich Freuds Ausführungen in „Totem und Tabu“ (S. 188 ff.) im Auge behalten, so können wir sagen: die jungen Burschen, die sich an zwei bestimmten Nachmittagen des Jahres verkleiden, mit Lärm wie die Teufel (Dämonen) oder wie Muni (Stiere, die man ausschließlich zur Fortpflanzung verwendet) durchs Dorf rasen und Frauen und Mädchen mit ihrer merkwürdigen und aus alter Zeit überlieferten und ererbten Spritze besudeln, benehmen sich so wie die Sohnesgeneration nach dem Tode des Urvaters, die sich nach vollzogener Identifizierung mit ihm in den Besitz seiner Macht und – seiner Frauen setzt. 21)

Welchen symbolischen Wert die Spritze besitzt, liegt so sehr auf der Hand, daß er jedermann sofort klar wird, auch wenn er die Traumsymbolik nicht kennt: ihre Bedeutung scheint auch schon Rütimeier offensichtlich geworden zu sein.

16) Freud: Totem und Tabu. Ges, Schriften, Bd. X, S. 186.
17) Zulliger: Zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgebräuche. Wien 1924.
18) Unglück, Krankheit und Tod werden bei den Primitiven überall bös gesinnten Dämonen zugeschrieben. Die Dämonen sind die Geister Abgeschiedener und bedeuten eine Projektion der Schuldgefühle der Lebend gebliebenen gegenüber dem Verstorbenen.
19) Schurtz, op. cit., S. 116.
20) Über die Symbolik der Kopftrophäen. Imago, Bd. XIV, 1928. Heft 1, S. 100 ff.
21) Freud: Totem und Tabu. Ges. Schriften, Bd. X, S. 170 ff. Ferner berichtet Wirz (op. cit.), daß in Neuguinea nach den rituellen Maskentänzen mit deutlichen totemistischen Wesenszügen, denen eine gemeinsame Schlemmerei gefolgt ist, sexuelle Orgien im Busch stattfinden, wobei, wie angedeutet wird, es äußerst wild zugeht und jede beliebige Frau jedem beliebigen Manne angehören kann – die Scheu vor Inzest wird also für die betreffende Festnacht überwunden, der Inzest ist möglich und bleibt ungestraft.

Bezeichnend sind die Flüssigkeiten, mit denen man die Frauen anspritzt: aufgeschwemmter Ruß, Jauche und Blut – Ingredienzien, die zum Gedankenkreis der anal-urethral-sadistischen Entwicklungs- und Denkstufe gehören und für das Unbewußte ein Äquivalent bedeuten für das Sperma.

Der Maskenbrauch der Roichtschäggeten mit seinem Befruchtungszauber ist aus der Auflehnung der Sohnesgeneration gegen die Vätergeneration entsprungen, er wendet sich gegen den ersten Besitz der Vätergeneration, das sind die Frauen, und bedeutet die symbolische Erfüllung der Ödipuswünsche in einer für Kulturmenschen etwas schmutzigen, bäurisch-derben, jedoch als Scherz gedachten Handlung.

Rütimeier bezeichnet den Roichtschäggetenbrauch ausdrücklich als einen „Fruchtbarkeitszauber“. Nach meinem Erachten handelt es sich jedoch eher um einen Befruchtungszauber oder überhaupt nur um eine Koitussymbolik. – Wenn z. B. der oberbayrische Bauer mit seiner Frau in die keimende Saat geht, um dort Geschlechtsverkehr vorzunehmen, im Glauben, daß hernach das Getreide besser gedeihe, so unterscheidet sich dieser eigentliche Fruchtbarkeitszauber wesentlich vom Lötschtaler Brauch: der Zweck ist bewußt, der Brauch hat den deutlichen Sinn eines Analogiezaubers und er wird ausgeführt, um ein bestimmtes und klar gewünschtes Ziel zu erreichen. Die Lötscher wissen jedoch nicht um Sinn und Zweck ihrer Zeremonie und betrachten sie als einen mutwilligen Scherz, der zum Auftreten der Maskierten überlieferungsgemäß gehört.

Es ist wiederum Freud,22) der uns aufgezeigt hat, daß sich das Unbewußte und die verdrängte Welt der Triebe oft den Scherz, den Witz und das Humoristische auswählt, um sich durchzusetzen, und wir können sagen, daß ein solcher Ausweg vom Standpunkte sozialer Wertmessung viel harmloser und deshalb wertvoller ist als die Flucht in die Krankheit. Das will nun nicht bedeuten, daß bei den streng religiös gesinnten Lötschentalern keine Neurosen vorkommen, im allgemeinen jedoch darf gesagt werden, daß bei ihnen der „Kampf der Generationen“ weniger auffällig tobt als anderswo, daß man das Alter sehr verehrt und daß auch die wirtschaftlichen Zustände noch äußerst patriarchalisch 23) sind. Vielleicht haben sie es nicht zuletzt darum bleiben können, weil die Bräuche und Sitten es den Taleinwohnern erlauben, den aus der Ödipussituation resultierenden Aggressionstendenzen Abfluß zu verschaffen. 24)

Diese Bräuche und Sitten bedeuten für die Lötscher im Ablaufe ihres Lebens weit mehr, als etwa die Fastnachts- und andere Gebräuche bei uns, ihnen haftet noch etwas Mystisches, auch im Scherze Ernsthaftes und Schweres an. Für die Psychologie der Lötscher ist charakteristisch, daß neben der religiösen Gläubigkeit der Aberglaube einen reichlichen Platz ein nimmt hinter jedem Stein, unter jedem Baum lauert irgendein Geist (Dämon) und die Leute wissen viel von ihnen in Form von Geschichten, Sagen und Märchen zu erzählen. 25)
Es bleibt schließlich noch übrig, einige Vermutungen über den Namen „Roichtschäggeten“ bekanntzugeben. Rütimeier sagt uns darüber, daß man im Lötschentale den Kindern erkläre, die maskierten Leute kämen aus den Kaminen heraus.
Sie sind also offenbar dem Herd entstiegen. Der „väterliche Herd“ hat für das Unbewußte bei allen Völkern den Symbolwert des Mutterleibes. Auf Formosa werden die Toten, wie Govern 26) erzählt, unterm Herd bestattet, was den Sinn hat, daß sie in die Mutter zurückkehren. 27)

Es liegt nahe, daß die Aussage, die Roichtschäggeten entstiegen den Kaminen, d. h. für die Verhältnisse im Lötschentale (Sennhütten, ziemlich primitiv gebaute Häuser) den Rauchfangöffnungen, in die Sprache des Unbewußten übersetzt, heißen dürfte, sie entsteigen dem Mutterschoß. 28)

Wir sind nicht im Besitze von Indizien, die beweisen könnten, daß damit der Schoß der Urmutter gemeint sei, möchten jedoch auch eine solche Auslegung in den Bereich der Möglichkeit ziehen und vermuten. Jedenfalls kann mit Sicherheit gesagt werden, durch die Geburtssymbolik werde deutlich, daß die Roichtschäggeten eben „Söhne“ sind, dem väterlichen Herd Entstiegene, nicht der Väter-, sondern der Sohnesgeneration Angehörige. Unter diesem Aspekt will uns die Bezeichnung für die Lotschentaler Maskierten nicht zufällig erscheinen und wir werden der nicht uninteressanten Erklärung teilhaft, daß die Roichtschäggeten in ihrer Bekleidung die Insignien des Urvaters, in ihrer Bezeichnung wahrscheinlicherweise einen Hinweis auf die Urmutter an sich tragen.

22) Freud: Der Witz und seine Beziehungen zum Unbewußten. Ges. Schriften, Bd. IX. – Der Humor. Ges. Schriften, Bd, XI.
23) Anneler: Lotsehen. Bern 1921. – Oft bleiben die Familien auch nach der Heirat der Kinder beieinander, sie bewirtschaften das Land gemeinsam und auch die Wohnhäuser und vor allem die Speicher bleiben Gemeinbesitz, ebenso Alp- und Bewässerungarechte usw,
24) Als eine solche Abfuhr, zugleich als ein sozusagen „gemilderter“ Roichtschäggetenbrauch, dürfte der durch den katholischen Hauptgeistlichen des Tales angeführte, in der Kirche beginnende und mit einer Prozession verbundene „Segensonntag“ bezeichnet werden. Die wehrfähige Mannschaft der Dörfer, vorab die jungen Männer, erscheinen bei dieser farbenprächtigen und imposanten Prozession, die den Zweck hat, das Tal zu segnen und den himmlischen Schutz für die Kulturen und Wohnstätten anzurufen, in vererbten Uniformen aus der napoleonischen Zeit, die Köpfe mit mächtigen und schweren Bärenfelltschakos geziert. Wer keine solche Uniform besitzt, – meist die Söhne der ärmeren Geschlechter, – erscheint in derjenigen des schweizerischen Heeres. An gewissen Stellen, wo der Segen über das Land ausgesprochen und das Allerheiligste gezeigt wird, feuern die jungen Männer ihre Flinten in die Luft ab. Dabei wenden sich die Gewehrläufe – ob zufällig? – sowohl in Kippel als in Blatten nach der Richtung des Friedhofes hin. Nach den Zeremonien wird auf Kosten der Gemeinde getrunken („Gemeindetrank“) und gefeiert. – Der Sinn dieses traditionellen Brauches scheint bei den Lötschern vergessen zu sein, doch stimmt er genau mit den Zeremonien der Dämonenaustreibung der Wilden und mit den mittelalterlichen Teufelsaustreibungen in unseren Gegenden überein.
25) Siegen: Gletschermärchen. Bern 1921. A nn e l er, op. cit.
26) Govern: Unter den Kopfjägern auf Formosa. Stuttgart 1925.
27) Zulliger, op. cit. S. 51.
28) Eine achtzehnjährige, sehr wohlbehütete Pfarrerstochter, deren sexuelle Aufklärung durch ihre Mutter dahin lautete, daß die kleinen Kinder von einem Engel gebracht würden, erhält ein Schwesterehen, und fragt in einem Gespräche die Mutter:
„Ich möchte nur wissen, wo kam der Engel herein? Kam er vorn durch die Küche oder kam er hinten durch die Stube herein? Sag‘ mir nur dieses, liebe Mutter, damit ich wi eder schlafen kann … “ Hinter dieser Frage steckt das für die Tochter brennende Problem, ob die Kinder genital (vorn – durch die Küche) oder anal (hinten – durch die Stube) zur Welt kommen, und wir finden auch hier die Küche als Symbol für die weiblichen Geschlechtsteile. (Siehe Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, Jahrg, I, S. 250)

Quelle:

  • Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur- und Geisteswissenschaften XIV 1928 Heft 4 von Sigmund Freud. (Hg.). Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1928.
  • Quelle: Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde. Société Suisse des Traditions Populaires. Schweizerisches Archiv für Volkskunde. Vierteljahrsschrift. Erster Jahrgang. ZÜRICH 1897.

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